Landschaft/Natur
Verfasst: So Okt 16, 2005 7:07 pm
Österreich ist – landschaftlich ebenso wie kulturell – ein Mikrokosmos. Es hat in sich mehr Geschichte und Tradition aufgesogen als so manche neureiche Großmacht. Es verfügt aufgrund seiner geographischen Lage über eine derartige Vielfalt von Landschaftsformen, wie man sie kaum in einem vergleichbar kleinen Land, aber auch selten in größeren finden wird. Ohne Österreichs kulturelles Erbe würde die abendländische Kultur um einen Mozart, einen Schubert, einen Bruckner, einen Johann Strauß, einen Franz Kafka und einen Sigmund Freud ärmer sein, um nur ganz wenige der Titanen made in Austria zu nennen, von denen es in Wahrheit noch viel mehr gibt (auch wenn die Österreicher beispielsweise Beethoven und Brahms nur von den Deutschen "geborgt", beide Musiker dafür aber um so nachhaltiger eingebürgert haben). Was ist es nun aber wirklich, was diese knappen 84000 qkm Land mit seinen rund 8,1 Mio. Einwohnern zu jener "Welt im Kleinen" macht, von der Hebbel gesprochen hat? Ist es nur das imperiale Erbe der Donaumonarchie? Ist es etwa auch das Klima? Oder ist es die geographische Lage am Schnittpunkt aller Himmelsrichtungen, in der sich germanische, slawische und romanische Elemente zu einem "Melting Pot" vermischen konnten, wie man ihn sonst vielleicht nur noch in New York findet?
Gewiss spielen alle diese Gründe eine Rolle, wenn man beginnt, sich eine Art Österreich-Puzzle zusammenzusetzen.
Das älteste Stückchen Österreich entstand in der jüngeren Steinkohlezeit, also vor etwa 290 Mio. Jahren. Es ist jenes alte Rumpfschollengebirge, das heute große Teile Ober- und Niederösterreichs, genauer gesagt das Mühlviertel und das Waldviertel, umschließt. Beide sind archaische Landschaften nördlich der Donau, die sich infolge der langen, geradezu hermetischen Abgeschlossenheit durch den Eisernen Vorhang im Norden auch viel von ihrer Urtümlichkeit bewahrt haben und erst in den vergangenen Jahren allmählich vom "Durchzugstourismus" der Nord-Süd-Route erfasst wurden.
Aus der Vogelperspektive erscheint diese Landschaft wie ein monolithischer Block, der an seiner Südseite von den Donauwellen umspült wird, die so blau freilich auch wieder nicht sind, wie es uns der Strauß-Walzer "An der schönen blauen Donau" weismachen möchte, der von den Österreichern – und nicht nur von ihnen – gerne als geheime Nationalhymne des Landes gehandelt wird.
Die Donau ist, obwohl sie genaugenommen nur drei von neun Bundesländern durchfließt, der Zentralnerv, die geheime Lebensader des Landes.
Unser kurzer einleitender Streifzug durch Österreich führt uns vom Donauland geradewegs in die drei großen österreichischen Beckenlandschaften, das Wiener, das Pannonische und das Grazer Becken. Das Wiener Becken wird vom östlichsten und wohl auch sanftesten Alpenausläufer, dem Wienerwald, geprägt.
Dabei wäre den Wienern ihr Wald mitsamt seinen schier uferlosen Weinbergen, seinen dichten Buchenabschnitten im Norden und den Schwarzkieferhainen im Süden vor etwa einem Jahrhundert um ein Haar abhanden gekommen. Geschäftemacher und Spekulanten erhofften sich auf dem Höhepunkt der in ökologischer Hinsicht besonders erbarmungslosen Wiener "Gründerzeit" von der Abholzung des gesamten Baumbestandes enorme Gewinne. Seine Erhaltung ist einem Einzelkämpfer namens Josef Schöffel zu verdanken, der es durch die Mobilisierung der Bewohner von Mödling, der größten Ortschaft im Wienerwald, schaffte, den Raubbau an der Landschaft in letzter Minute zu verhindern.
In Mödling beginnt auch die Verbindungslinie vom Wiener zum Grazer Becken, die sogenannte Thermenlinie. Ihr Name verrät schon, dass sie von zahlreichen warmen Quellen des einstigen Urmeeres gespeist wird, die einen besonders hohen Gehalt an Mineralien und Radioaktivität aufweisen. Baden bei Wien beispielsweise, ein fashionabler Kurort aus dem Fin de siècle, verdankt einen Großteil seines Ruhms den fünfzehn Schwefelthermen, die mit Temperaturen von bis zu 38,5 Grad Celsius aus dem Erdreich sprudeln. Bekannte Kurorte entlang der Thermenlinie, die sich hinter dem Semmering auch in der Steiermark fortsetzt, sind Bad Vöslau, Bad Fischau, Bad Schönau, Bad Waltersdorf, Bad Tatzmannsdorf, Bad Gleichenberg und Bad Radkersburg. Wobei zu den Besonderheiten der Thermenlinie keineswegs nur das heilkräftige Wasser, sondern auch eine andere, vielleicht nicht ganz so heilkräftige Flüssigkeit zählt, nämlich der Wein. An den Hängen längs der Südbahn, welche die Thermenregion durchquert, bringt er einige seiner herrlichsten Ausdrucksformen, kräftige, körperreiche Weißweine und samtig-elegante Rotweine hervor, unter anderem den weltberühmten "Gumpoldskirchner".
Bevor wir jedoch ins Grazer Becken und damit in die Steiermark abschweifen, und weil wir schon einmal beim Wein sind, bietet sich noch ein kurzer Abstecher ins Pannonische Becken an, das mit weiten Teilen des Bundeslandes Burgenland identisch ist.
Wer jemals Österreichs hochalpine Regionen kennen gelernt hat, kann sich kaum vorstellen, dass ein kleines Gebirgsland wie Österreich auch noch Platz für eine so ganz und gar gegensätzliche Landschaft hat. Im Seewinkel östlich des Neusiedler Sees ist es so "brettleben", wie die Einheimischen sagen, dass man bis hin zum Horizont nicht einmal eine Bodenwelle erkennen kann und die typischen Ziehbrunnen der Pußta sowie die geduckten, strohgedeckten Winzerhäuser nahezu die einzigen Erhebungen in der Landschaft zu sein scheinen.
Den eigentlichen Mittelpunkt des Pannonischen Beckens bildet zweifellos der Neusiedler See, Mitteleuropas einziger Steppensee und ein Biotop von weltweit einzigartiger Bedeutung. Das 310qkm umspannende "Meer der Wiener" wird von einem einzigen schmalen Bächlein namens Wulka entwässert und sonst nur aus unterirdischen Quellen gespeist. Einmal ist der See inmitten seines 130qkm messenden Schilfgürtels den Burgenländern buchstäblich vor den Augen weggetrocknet. Und es gibt einige Prognosen, dass dies schon in den nächsten Jahrzehnten ein zweites Mal der Fall sein könnte. Es empfiehlt sich also durchaus, dem Neusiedler See noch einen Besuch abzustatten. Man wird dafür nicht nur mit einer bezaubernden Landschaft, sondern auch mit einer europaweit einzigartigen Flora und Fauna belohnt, deren charakteristischste Vertreter die berühmten Ruster Störche sind.
Südlich des Neusiedler Sees gelangt man ins nicht mehr ganz so "brettlebene" Mittel- und Südburgenland und, ein Stückchen weiter westlich, ins von ausladenden Obstkulturen geprägte oststeirische "Joglland", das seinen Namen Kaiserin Maria Theresia verdankt, die während einer Inspektionsreise einmal fragte, wie es eigentlich käme, dass in diesem Landstrich alle Männer Jogl hießen.
Die Oststeiermark ist eine sehr idyllische, vom Tourismus noch fast unberührte Gegend, die vor allem für ihre bunten Herbste berühmt ist. Kaum jemals erreichen die vom Mischwald bedeckten Erhebungen mehr als 600 bis 800m. Die kleinen Flüsse winden sich mäandrisch durch blühende Aulandschaften.
Die sanften Hügelketten scheinen allesamt auf das Grazer Becken, die Mitte der "grünen Mark", wie die Steiermark auch genannt wird, hinzustreben. Es verläuft nach Süden hin in die tief eingeschnittenen Hügelketten des Sausalgebirges (wo sich Kitzeck, Österreichs höchstgelegener Weinort, befindet) und der südsteirischen Weinstraße zwischen Eibiswald und Ehrenhausen. Sie wird keineswegs nur von glühenden Patrioten als "steirische Toskana" bezeichnet, zumal sie mit derselben nicht nur hervorragende Weine, sondern auch das Landschaftsbild gemeinsam hat.
Womit wir den Ebenen und Beckenlandschaften Lebewohl sagen und uns jenen Regionen zuwenden, für die Österreich (ähnlich wie die flächenmäßig nur halb so große Schweiz) mit Recht Weltruhm genießt – als jenes "Land der Berge", als das es auch in der Bundeshymne besungen wird.
Österreichs Anteil an den Ostalpen verläuft in drei, durch Längsfurchen voneinander eindeutig unterscheidbaren Zonen: den Nördlichen Kalkalpen, den Zentralalpen und den Südlichen Kalkalpen, zu denen man auch noch zwei weitere Beckenlandschaften, nämlich die rund um die Osttiroler Hauptstadt Lienz und die Kärntner Landeshauptstadt Klagenfurt, rechnen muss. Letzteres ist vor allem als die berühmte Kärntner Seenplatte bekannt, die nicht nur das TV-bekannte "Schloß am Wörthersee" birgt, sondern auch Juwele wie den Millstätter, den Faaker und den Ossiacher See sowie zahllose "geheime Seen", die freilich – wie etwa der Pressegger oder der Keutschacher See – dank ihrer unleugbaren Beliebtheit bei den Feriengästen gar so geheim auch nicht mehr sind.
Salzkammergut
Die Nördlichen Kalkalpen beginnen am Rhein und verlaufen in vielerlei Ketten und Zinnen über den Arlberg, das Tiroler Stanzertal, den Inn, die Salzach und die Enns entlang über das steirische Mur- und Mürztal bis hin zum Semmering und zu den letzten Alpenerhebungen, die bereits auf Wiener Stadtgebiet liegen: Leopoldsberg, Kahlenberg und Lainzer Tiergarten. Zu den absoluten "Highlights" dieses Teiles der Alpen zählen zunächst einmal die Karwendelkette und das Zillertal in Tirol. In ihrem Herzen sind auch die berühmten Krimmler Wasserfälle im Salzburger Pinzgau, eines von Österreichs bedeutenden Naturwundern, gelegen. Und schließlich breitet sich rund um den Dachstein das weltberühmte Salzkammergut aus, jenes Gebiet, wo man, wie das Volkslied weiss, "gut lustig sein" kann. Was offenbar auch schon Kaiser Franz Joseph wusste, der den Kurort Bad Ischl zu seiner Sommerresidenz ausbaute und damit der Seenplatte rund um Attersee, Traunsee, Hallstätter See, Mondsee und Wolfgangsee (um nur die wichtigsten zu nennen) den imperialen Glanz verlieh, der an den Uferstegen und Seepromenaden zwischen Gmunden und St. Gilgen noch immer allgegenwärtig ist. Auch wenn heute nur noch die wenigsten Österreicher Monarchisten sind, hat das kaiserliche Image Wesen und Persönlichkeit der Bewohner entscheidend geprägt.
Kaprun
Wenn in Wanderliedern von "herrlichen Bergen und sonnigen Höhen" die Rede ist, so denken die Österreicher freilich vor allem an die Zentralalpen. In ihrem Verlauf findet man nämlich die höchsten und beeindrukkendsten Gipfel, die längsten Gletscherzungen, die imposantesten Kletterpartien und die schönste Alpenflora. Das Kernstück dieser Gebirgsformation ist das im Norden von Salzach und Inn, im Süden von Drau und (in Südtirol) Eisack begrenzte "Tauernfenster" zwischen Brenner und Matrei, das seinen Namen der geologischen Besonderheit dieses Ensembles verdankt. Hier befinden sich viele Gipfel, die das Herz jedes Bergsteigers höher – und immer noch höher – schlagen lassen. Da ist zunächst einmal der Großglockner, der höchste Berg Österreichs, auf den die Glockner-Hochalpenstraße, die wohl berühmteste Bergstraße der Alpenrepublik, führt. Rundherum rufen die Gipfel der Zillertaler Alpen, des Großvenediger- und des Sonnblick-Ankogel-Massivs, während sich tief unten im kristallinen Gestein die Autokolonnen träge durch den Tauerntunnel längs der Nord-Süd-Route von Deutschland nach Italien bewegen.
Westlich des "Tauernfensters" erstrecken sich die Silvretta und die Ötztaler Alpen mit der Wildspitze, dem höchsten Berg Tirols. Ostwärts verlaufen die Zentralalpen längs der rundkuppigen Nockberge über das Kärntner Lavanttal bis hin zum Wechselgebirge, in dem Ludwig Wittgenstein seinen weltberühmten "Tractatus logico philosophicus" verfasste. Weiter geht’s hinein in die sogenannte "Bucklige Welt" und ins Pannonische Becken, in welches – als östlichste Zentralalpenausläufer – das im Sommer von violetten Salbeiblüten übersäte Rosaliengebirge und die von ausladenden Weingärten bestandenen Hänge des Leithagebirges hineinragen.
Diese kleine Tour d’horizon durch Österreich hat gewiß eines gezeigt: Über den sprichwörtlichen Leisten schlagen lassen sich Österreichs neun Bundesländer – Wien, Burgenland, Niederösterreich, Oberösterreich, Salzburg, Steiermark, Kärnten, Tirol und Vorarlberg – beileibe nicht. Was ließe sich beispielsweise Gegensätzlicheres vorstellen als das Leben eines Osttiroler Bergbauern und jenes der an ihrem leicht näselnden, auch Schönbrunnerdeutsch genannten, Hochdeutsch erkennbaren Bewohner der Wiener Nobelbezirke Hietzing, Döbling und Sievering? Gewiss hat sich das Erscheinungsbild Österreichs seit der Kaiserzeit gewaltig geändert. Aus einem Bauern- und Beamtenstaat (in dem die Bauern 90 Prozent der Bevölkerung ausmachten) ist ein Industrie- und Fremdenverkehrsland geworden, das sich gleichwohl ein gewisses bäuerliches Element bis heute zu bewahren wusste. Die Dorf- und Flurformen haben sich gottlob weitestgehend erhalten, ob im Burgenland, wo nach wie vor die charakteristische Form des langgezogenen Gassen- und Straßendorfs vorherrscht, oder in den vor allem für die Tiroler Bauweise charakteristischen Haufendörfern, in denen enge Gässchen und winkelige Dorfstraßen einem kompakten Häusermosaik zugrunde liegen.
Auch die bäuerliche Architektur ist – aller pseudohistorisierenden "Lederhosenbauweise" zum Trotz – in vielen Dörfern und Tälern Österreichs bis heute erkennbar geblieben.
"Die Wohnungen des Volkes sind die treuesten Verkörperungen seiner Seele", hat der österreichische Heimatdichter Peter Rosegger einmal gemeint. Und wer die heute noch das Landschaftsbild prägenden stolzen Vierkanthöfe des Innviertels, die wie Trutzburgen wirkenden Kärntner Ringhöfe oder die zahlreichen sprechenden Giebelzeichen auf den Dächern mit ihrer volkstümlichen Symbolik vom heidnischen Hunde- und Pferdekopf bis zum christlichen "Auge Gottes" betrachtet, der wird dem Schriftsteller Rosegger gewiss recht geben.
Basilika MariazellVon der Volkskultur ist es in Österreich oft nur ein kleiner Schritt zur sogenannten "Hochkultur". Viele große Kunstwerke – ob die bedeutenden Schnitzaltäre von Kefermarkt und St. Wolfgang oder der langsame Satz in Beethovens "Pastorale" – fußen auf volkskulturellen Elementen. So manche großartige barocke Wallfahrtskirche verdankt, wie etwa die Basilika Mariazell, ihre Existenz einem roh behauenen Holzstück, dem irgendein Herrgottsschnitzer vor fast einem Jahrtausend die reichlich groben Züge einer Madonna verliehen hat.
Ohne tiefverwurzelte Volksfrömmigkeit wäre Österreichs Kultur ebenso wenig denkbar wie ohne das Haus Habsburg. Seit fast einem Jahrtausend hat sich der österreichische Alltag im vielzitierten Dreieck aus Gott, Kaiser und Vaterland abgespielt, das heute gewiss längst der Vergangenheit angehört, aber ebenso gewiss zum Verständnis dessen beiträgt, was der österreichische Psychiater und Sigmund-Freud-Schüler Erwin Ringel einmal als "österreichische Seele" bezeichnet hat.
"Der Österreicher denkt sich sein Teil und lässt die anderen reden", heißt es in Schillers "Wallenstein". Und dieser Satz umreißt bereits genau den typisch österreichischen Hang zur "Wurschtigkeit", der seine Wurzeln gewiss im obrigkeitsstaatlichen Denken des Habsburgerreiches hat. Umgekehrt war der Österreicher, der ja immerhin "den Kaiser gestellt" hat, im Gegensatz zu manchem Vasallenvolk niemals ein Unterdrückter. Und er hat daher, bei aller "Wurschtigkeit", auch einen klammheimlichen Hang zum Größenwahn, der sich in großen Kulturleistungen, aber ebenso in katastrophalen Irrtümern manifestiert.
Bei alledem ist der Österreicher vor allem eines: nämlich ein rundum gastfreundlicher Mensch. Im Laufe seiner Geschichte hat er gelernt, mit Menschen, die – ob Freund oder Feind – aus allen Himmelsrichtungen in die Metropole Wien strömten, umzugehen und jenes Gefühl, das als "Gemütlichkeit" sogar in den angelsächsischen Sprachraum eingegangen ist, mit ihnen zu teilen. Manchmal aus durchaus aufrichtigen Motiven, manchmal, damit die Zeit vergeht, und gar nicht so selten auch deswegen, weil der Österreicher erkannt hat, dass man davon ganz gut leben kann.
Wien
172 m Seehöhe
1.610.000 Einwohner
Lage: im Zentrum Österreichs an der Donau
Gewiss spielen alle diese Gründe eine Rolle, wenn man beginnt, sich eine Art Österreich-Puzzle zusammenzusetzen.
Das älteste Stückchen Österreich entstand in der jüngeren Steinkohlezeit, also vor etwa 290 Mio. Jahren. Es ist jenes alte Rumpfschollengebirge, das heute große Teile Ober- und Niederösterreichs, genauer gesagt das Mühlviertel und das Waldviertel, umschließt. Beide sind archaische Landschaften nördlich der Donau, die sich infolge der langen, geradezu hermetischen Abgeschlossenheit durch den Eisernen Vorhang im Norden auch viel von ihrer Urtümlichkeit bewahrt haben und erst in den vergangenen Jahren allmählich vom "Durchzugstourismus" der Nord-Süd-Route erfasst wurden.
Aus der Vogelperspektive erscheint diese Landschaft wie ein monolithischer Block, der an seiner Südseite von den Donauwellen umspült wird, die so blau freilich auch wieder nicht sind, wie es uns der Strauß-Walzer "An der schönen blauen Donau" weismachen möchte, der von den Österreichern – und nicht nur von ihnen – gerne als geheime Nationalhymne des Landes gehandelt wird.
Die Donau ist, obwohl sie genaugenommen nur drei von neun Bundesländern durchfließt, der Zentralnerv, die geheime Lebensader des Landes.
Unser kurzer einleitender Streifzug durch Österreich führt uns vom Donauland geradewegs in die drei großen österreichischen Beckenlandschaften, das Wiener, das Pannonische und das Grazer Becken. Das Wiener Becken wird vom östlichsten und wohl auch sanftesten Alpenausläufer, dem Wienerwald, geprägt.
Dabei wäre den Wienern ihr Wald mitsamt seinen schier uferlosen Weinbergen, seinen dichten Buchenabschnitten im Norden und den Schwarzkieferhainen im Süden vor etwa einem Jahrhundert um ein Haar abhanden gekommen. Geschäftemacher und Spekulanten erhofften sich auf dem Höhepunkt der in ökologischer Hinsicht besonders erbarmungslosen Wiener "Gründerzeit" von der Abholzung des gesamten Baumbestandes enorme Gewinne. Seine Erhaltung ist einem Einzelkämpfer namens Josef Schöffel zu verdanken, der es durch die Mobilisierung der Bewohner von Mödling, der größten Ortschaft im Wienerwald, schaffte, den Raubbau an der Landschaft in letzter Minute zu verhindern.
In Mödling beginnt auch die Verbindungslinie vom Wiener zum Grazer Becken, die sogenannte Thermenlinie. Ihr Name verrät schon, dass sie von zahlreichen warmen Quellen des einstigen Urmeeres gespeist wird, die einen besonders hohen Gehalt an Mineralien und Radioaktivität aufweisen. Baden bei Wien beispielsweise, ein fashionabler Kurort aus dem Fin de siècle, verdankt einen Großteil seines Ruhms den fünfzehn Schwefelthermen, die mit Temperaturen von bis zu 38,5 Grad Celsius aus dem Erdreich sprudeln. Bekannte Kurorte entlang der Thermenlinie, die sich hinter dem Semmering auch in der Steiermark fortsetzt, sind Bad Vöslau, Bad Fischau, Bad Schönau, Bad Waltersdorf, Bad Tatzmannsdorf, Bad Gleichenberg und Bad Radkersburg. Wobei zu den Besonderheiten der Thermenlinie keineswegs nur das heilkräftige Wasser, sondern auch eine andere, vielleicht nicht ganz so heilkräftige Flüssigkeit zählt, nämlich der Wein. An den Hängen längs der Südbahn, welche die Thermenregion durchquert, bringt er einige seiner herrlichsten Ausdrucksformen, kräftige, körperreiche Weißweine und samtig-elegante Rotweine hervor, unter anderem den weltberühmten "Gumpoldskirchner".
Bevor wir jedoch ins Grazer Becken und damit in die Steiermark abschweifen, und weil wir schon einmal beim Wein sind, bietet sich noch ein kurzer Abstecher ins Pannonische Becken an, das mit weiten Teilen des Bundeslandes Burgenland identisch ist.
Wer jemals Österreichs hochalpine Regionen kennen gelernt hat, kann sich kaum vorstellen, dass ein kleines Gebirgsland wie Österreich auch noch Platz für eine so ganz und gar gegensätzliche Landschaft hat. Im Seewinkel östlich des Neusiedler Sees ist es so "brettleben", wie die Einheimischen sagen, dass man bis hin zum Horizont nicht einmal eine Bodenwelle erkennen kann und die typischen Ziehbrunnen der Pußta sowie die geduckten, strohgedeckten Winzerhäuser nahezu die einzigen Erhebungen in der Landschaft zu sein scheinen.
Den eigentlichen Mittelpunkt des Pannonischen Beckens bildet zweifellos der Neusiedler See, Mitteleuropas einziger Steppensee und ein Biotop von weltweit einzigartiger Bedeutung. Das 310qkm umspannende "Meer der Wiener" wird von einem einzigen schmalen Bächlein namens Wulka entwässert und sonst nur aus unterirdischen Quellen gespeist. Einmal ist der See inmitten seines 130qkm messenden Schilfgürtels den Burgenländern buchstäblich vor den Augen weggetrocknet. Und es gibt einige Prognosen, dass dies schon in den nächsten Jahrzehnten ein zweites Mal der Fall sein könnte. Es empfiehlt sich also durchaus, dem Neusiedler See noch einen Besuch abzustatten. Man wird dafür nicht nur mit einer bezaubernden Landschaft, sondern auch mit einer europaweit einzigartigen Flora und Fauna belohnt, deren charakteristischste Vertreter die berühmten Ruster Störche sind.
Südlich des Neusiedler Sees gelangt man ins nicht mehr ganz so "brettlebene" Mittel- und Südburgenland und, ein Stückchen weiter westlich, ins von ausladenden Obstkulturen geprägte oststeirische "Joglland", das seinen Namen Kaiserin Maria Theresia verdankt, die während einer Inspektionsreise einmal fragte, wie es eigentlich käme, dass in diesem Landstrich alle Männer Jogl hießen.
Die Oststeiermark ist eine sehr idyllische, vom Tourismus noch fast unberührte Gegend, die vor allem für ihre bunten Herbste berühmt ist. Kaum jemals erreichen die vom Mischwald bedeckten Erhebungen mehr als 600 bis 800m. Die kleinen Flüsse winden sich mäandrisch durch blühende Aulandschaften.
Die sanften Hügelketten scheinen allesamt auf das Grazer Becken, die Mitte der "grünen Mark", wie die Steiermark auch genannt wird, hinzustreben. Es verläuft nach Süden hin in die tief eingeschnittenen Hügelketten des Sausalgebirges (wo sich Kitzeck, Österreichs höchstgelegener Weinort, befindet) und der südsteirischen Weinstraße zwischen Eibiswald und Ehrenhausen. Sie wird keineswegs nur von glühenden Patrioten als "steirische Toskana" bezeichnet, zumal sie mit derselben nicht nur hervorragende Weine, sondern auch das Landschaftsbild gemeinsam hat.
Womit wir den Ebenen und Beckenlandschaften Lebewohl sagen und uns jenen Regionen zuwenden, für die Österreich (ähnlich wie die flächenmäßig nur halb so große Schweiz) mit Recht Weltruhm genießt – als jenes "Land der Berge", als das es auch in der Bundeshymne besungen wird.
Österreichs Anteil an den Ostalpen verläuft in drei, durch Längsfurchen voneinander eindeutig unterscheidbaren Zonen: den Nördlichen Kalkalpen, den Zentralalpen und den Südlichen Kalkalpen, zu denen man auch noch zwei weitere Beckenlandschaften, nämlich die rund um die Osttiroler Hauptstadt Lienz und die Kärntner Landeshauptstadt Klagenfurt, rechnen muss. Letzteres ist vor allem als die berühmte Kärntner Seenplatte bekannt, die nicht nur das TV-bekannte "Schloß am Wörthersee" birgt, sondern auch Juwele wie den Millstätter, den Faaker und den Ossiacher See sowie zahllose "geheime Seen", die freilich – wie etwa der Pressegger oder der Keutschacher See – dank ihrer unleugbaren Beliebtheit bei den Feriengästen gar so geheim auch nicht mehr sind.
Salzkammergut
Die Nördlichen Kalkalpen beginnen am Rhein und verlaufen in vielerlei Ketten und Zinnen über den Arlberg, das Tiroler Stanzertal, den Inn, die Salzach und die Enns entlang über das steirische Mur- und Mürztal bis hin zum Semmering und zu den letzten Alpenerhebungen, die bereits auf Wiener Stadtgebiet liegen: Leopoldsberg, Kahlenberg und Lainzer Tiergarten. Zu den absoluten "Highlights" dieses Teiles der Alpen zählen zunächst einmal die Karwendelkette und das Zillertal in Tirol. In ihrem Herzen sind auch die berühmten Krimmler Wasserfälle im Salzburger Pinzgau, eines von Österreichs bedeutenden Naturwundern, gelegen. Und schließlich breitet sich rund um den Dachstein das weltberühmte Salzkammergut aus, jenes Gebiet, wo man, wie das Volkslied weiss, "gut lustig sein" kann. Was offenbar auch schon Kaiser Franz Joseph wusste, der den Kurort Bad Ischl zu seiner Sommerresidenz ausbaute und damit der Seenplatte rund um Attersee, Traunsee, Hallstätter See, Mondsee und Wolfgangsee (um nur die wichtigsten zu nennen) den imperialen Glanz verlieh, der an den Uferstegen und Seepromenaden zwischen Gmunden und St. Gilgen noch immer allgegenwärtig ist. Auch wenn heute nur noch die wenigsten Österreicher Monarchisten sind, hat das kaiserliche Image Wesen und Persönlichkeit der Bewohner entscheidend geprägt.
Kaprun
Wenn in Wanderliedern von "herrlichen Bergen und sonnigen Höhen" die Rede ist, so denken die Österreicher freilich vor allem an die Zentralalpen. In ihrem Verlauf findet man nämlich die höchsten und beeindrukkendsten Gipfel, die längsten Gletscherzungen, die imposantesten Kletterpartien und die schönste Alpenflora. Das Kernstück dieser Gebirgsformation ist das im Norden von Salzach und Inn, im Süden von Drau und (in Südtirol) Eisack begrenzte "Tauernfenster" zwischen Brenner und Matrei, das seinen Namen der geologischen Besonderheit dieses Ensembles verdankt. Hier befinden sich viele Gipfel, die das Herz jedes Bergsteigers höher – und immer noch höher – schlagen lassen. Da ist zunächst einmal der Großglockner, der höchste Berg Österreichs, auf den die Glockner-Hochalpenstraße, die wohl berühmteste Bergstraße der Alpenrepublik, führt. Rundherum rufen die Gipfel der Zillertaler Alpen, des Großvenediger- und des Sonnblick-Ankogel-Massivs, während sich tief unten im kristallinen Gestein die Autokolonnen träge durch den Tauerntunnel längs der Nord-Süd-Route von Deutschland nach Italien bewegen.
Westlich des "Tauernfensters" erstrecken sich die Silvretta und die Ötztaler Alpen mit der Wildspitze, dem höchsten Berg Tirols. Ostwärts verlaufen die Zentralalpen längs der rundkuppigen Nockberge über das Kärntner Lavanttal bis hin zum Wechselgebirge, in dem Ludwig Wittgenstein seinen weltberühmten "Tractatus logico philosophicus" verfasste. Weiter geht’s hinein in die sogenannte "Bucklige Welt" und ins Pannonische Becken, in welches – als östlichste Zentralalpenausläufer – das im Sommer von violetten Salbeiblüten übersäte Rosaliengebirge und die von ausladenden Weingärten bestandenen Hänge des Leithagebirges hineinragen.
Diese kleine Tour d’horizon durch Österreich hat gewiß eines gezeigt: Über den sprichwörtlichen Leisten schlagen lassen sich Österreichs neun Bundesländer – Wien, Burgenland, Niederösterreich, Oberösterreich, Salzburg, Steiermark, Kärnten, Tirol und Vorarlberg – beileibe nicht. Was ließe sich beispielsweise Gegensätzlicheres vorstellen als das Leben eines Osttiroler Bergbauern und jenes der an ihrem leicht näselnden, auch Schönbrunnerdeutsch genannten, Hochdeutsch erkennbaren Bewohner der Wiener Nobelbezirke Hietzing, Döbling und Sievering? Gewiss hat sich das Erscheinungsbild Österreichs seit der Kaiserzeit gewaltig geändert. Aus einem Bauern- und Beamtenstaat (in dem die Bauern 90 Prozent der Bevölkerung ausmachten) ist ein Industrie- und Fremdenverkehrsland geworden, das sich gleichwohl ein gewisses bäuerliches Element bis heute zu bewahren wusste. Die Dorf- und Flurformen haben sich gottlob weitestgehend erhalten, ob im Burgenland, wo nach wie vor die charakteristische Form des langgezogenen Gassen- und Straßendorfs vorherrscht, oder in den vor allem für die Tiroler Bauweise charakteristischen Haufendörfern, in denen enge Gässchen und winkelige Dorfstraßen einem kompakten Häusermosaik zugrunde liegen.
Auch die bäuerliche Architektur ist – aller pseudohistorisierenden "Lederhosenbauweise" zum Trotz – in vielen Dörfern und Tälern Österreichs bis heute erkennbar geblieben.
"Die Wohnungen des Volkes sind die treuesten Verkörperungen seiner Seele", hat der österreichische Heimatdichter Peter Rosegger einmal gemeint. Und wer die heute noch das Landschaftsbild prägenden stolzen Vierkanthöfe des Innviertels, die wie Trutzburgen wirkenden Kärntner Ringhöfe oder die zahlreichen sprechenden Giebelzeichen auf den Dächern mit ihrer volkstümlichen Symbolik vom heidnischen Hunde- und Pferdekopf bis zum christlichen "Auge Gottes" betrachtet, der wird dem Schriftsteller Rosegger gewiss recht geben.
Basilika MariazellVon der Volkskultur ist es in Österreich oft nur ein kleiner Schritt zur sogenannten "Hochkultur". Viele große Kunstwerke – ob die bedeutenden Schnitzaltäre von Kefermarkt und St. Wolfgang oder der langsame Satz in Beethovens "Pastorale" – fußen auf volkskulturellen Elementen. So manche großartige barocke Wallfahrtskirche verdankt, wie etwa die Basilika Mariazell, ihre Existenz einem roh behauenen Holzstück, dem irgendein Herrgottsschnitzer vor fast einem Jahrtausend die reichlich groben Züge einer Madonna verliehen hat.
Ohne tiefverwurzelte Volksfrömmigkeit wäre Österreichs Kultur ebenso wenig denkbar wie ohne das Haus Habsburg. Seit fast einem Jahrtausend hat sich der österreichische Alltag im vielzitierten Dreieck aus Gott, Kaiser und Vaterland abgespielt, das heute gewiss längst der Vergangenheit angehört, aber ebenso gewiss zum Verständnis dessen beiträgt, was der österreichische Psychiater und Sigmund-Freud-Schüler Erwin Ringel einmal als "österreichische Seele" bezeichnet hat.
"Der Österreicher denkt sich sein Teil und lässt die anderen reden", heißt es in Schillers "Wallenstein". Und dieser Satz umreißt bereits genau den typisch österreichischen Hang zur "Wurschtigkeit", der seine Wurzeln gewiss im obrigkeitsstaatlichen Denken des Habsburgerreiches hat. Umgekehrt war der Österreicher, der ja immerhin "den Kaiser gestellt" hat, im Gegensatz zu manchem Vasallenvolk niemals ein Unterdrückter. Und er hat daher, bei aller "Wurschtigkeit", auch einen klammheimlichen Hang zum Größenwahn, der sich in großen Kulturleistungen, aber ebenso in katastrophalen Irrtümern manifestiert.
Bei alledem ist der Österreicher vor allem eines: nämlich ein rundum gastfreundlicher Mensch. Im Laufe seiner Geschichte hat er gelernt, mit Menschen, die – ob Freund oder Feind – aus allen Himmelsrichtungen in die Metropole Wien strömten, umzugehen und jenes Gefühl, das als "Gemütlichkeit" sogar in den angelsächsischen Sprachraum eingegangen ist, mit ihnen zu teilen. Manchmal aus durchaus aufrichtigen Motiven, manchmal, damit die Zeit vergeht, und gar nicht so selten auch deswegen, weil der Österreicher erkannt hat, dass man davon ganz gut leben kann.
Wien
172 m Seehöhe
1.610.000 Einwohner
Lage: im Zentrum Österreichs an der Donau