Lieber Spassmussein,
Da du anscheinend wie ich auch gerne mal “über den Tellerand” hinausschaust und dich mit dem politischen Geschehen der Nachbarländer befasst, respektiere ich Deine hier gepostete Meinung. Mich würde allerdings interessieren, wo Dein Wissen über die Verhältnisse hier in Ekuador herkommen. Aus der “freien und anabhängigen” Presse? Oder hast Du meine Wahlheimat in den letzten Jahren mal über einen längeren Zeitraum besucht ?
Sollte Deine Meinungsbildung ausschliesslich auf Grund der Pressemeldungen die Du gelesen hast beruhen, bedenke bitte das hinter der “freien und unabhängigen” Presse unter dem Deckmantel “objektiver Berichterstattung” auch Einzelpersonen oder Familien stehen, die ihre politischen und finanziellen Ambitionen vertreten. Sowohl die Meldungen der freien, unabhängigen Presse als auch der staatlichen Medien kannst du hier in SA getrost in die Tonne kloppen. Daher glaube ich, das man die Realität nur mitbekommt, wenn man selbst vor Ort ist. Ich war zwar persönlich auch schon kurz in ARG (Mendoza), denke aber das ich nach einem nur 4-tägigen Aufenthalt nicht sämtliche positive oder negative Dinge der Amtszeit von Nestor Kirchner oder der seiner Frau Christina Kirchner 100 % fehlerfrei aufzählen geschweige denn interpretieren könnte. Das überlasse ich dann den Experten wie Dir vor Ort. Ehrlich gesagt kommen mir Deine Posts über das politische Leben in ARG sehr bekannt vor. So ähnlich ist es bis Ende 2006 auch hier in Ekuador abgelaufen. In den ersten 6 Jahren meines Aufenthaltes hier habe ich nämlich nur 2 Dinge gesehen. Stillstand und Ablehnung gegen jegliche Veränderung um den Status Quo zu erhalten.
Seit Januar 2007 ist Rafael Correa Präsident von Ekuador. Seitdem sind die Dinge hier in Bewegung gekommen und für den Grossteil der Bevölkerung haben sich die Dinge zum positive entwickelt. Anschliessend werde ich einige der positiven Dinge aufzählen, dann kannst du entscheiden ob hier wirklich alles so negativ ist, wie du es in Deinen Posts hinstellst. Gleichzeitig würde ich gerne von Dir wissen ob Dir von den Amtsvorgängern von Correa seit 1996 irgendetwas positives in Erinnerung geblieben ist. Ich spreche hier von den Amtszeiten von Abdala Bucaram, Fabian Alarcon, Yamil Mahuat, Gustavo Noboa, Lucio Gutierrez und Alfredo Palacios. Übrigens nicht einer dieser Herren durfte Ekuador eine volle Amtszeit regieren.
Positive Veränderungen aus meiner Sicht:
1) Erhöhung des Mindestlohns: Vor Correa 170 $ pro Monat, heute 266 $. Damals wurden Hausangestellte sogar noch weit unter diesem Preis angestellt und natürlich nicht sozialversichert. Heute bekommen auch diese Leute Mindestlohn und Sozialversicherung
2) Kostenlose Schulbildung an staatlichen Schulen und Universitäten. Vor Correa hatten die Schulen keine gescheite Ausstattung, es mangelte an Lehrern, es gab fast monatlich Proteste da der Staat die Gehälter nicht pünktlich zahlte. Die Eltern mussten einmal im Jahr 20 $ Einschreibgebühr bezahlen, Uniformen und Bücher mussten gekauft werden. Heute wurden mehr als 90 % der Schulen dezent neu ausgestattet, Englisch ab der 1. Klasse als Pflichtfach eingeführt, die Einschreibegebühr wurde abgeschafft, Bücher und Uniformen zahlt der Staat, an allen Schulen Frühstück für die Kinder, in Schulen die in Armenvierteln liegen gibt es auch noch Mittagessen. Das Studium an den staatlichen Universitäten ist kostenlos, wenn der Student durchschnittlich 15 Punkte bei einem auf 20 Punkten ausgelegten Bewertungssystem erhält.
3) Erhöhung des Bildungsniveaus. Verfünfachung des Bildungsetats, Gehaltserhöhung von 340 auf 720 $ für angehende Lehrer, pünktliche Zahlung der Gehälter, keine Streiks. Alle Lehrer, auch die die schon 20 Jahre unterrichten mussten einen Leistungstest absolvieren. Wenn die Lehrer zwischen 90 % - 100 % erreicht haben bekamen sie eine Sondervergütung von 1.200 $, bei 70 % - 90 % haben sie ihre Eignung unter Beweis gestellt. Wer weniger als 70 % erreicht hatte, durft weiter unterrichten, musste jedoch eine 1-jährige Fortbildungsmassnahme besuchen, danach den Test erneut absolvieren. Bei erneuter Quote von unter 70 % wurden die Lehrer dann mit Abfindung entlassen, da sie offensichtlich nicht für diesen Beruf geeignet waren. Es wurden 30 % mehr Lehrkräafte im Vergleich zur Vorgängerregierung eingestellt. Das alles wiederspricht Deiner Diktatorthese, da meines Wissens Diktatoren ihr Volk so dumm wie möglich halten, da es so einfacher zu kontrollieren ist.
4) Sozialhilfe: Die Christdemokraten haben schon vor Jahren eine Sozialhilfe eingeführt. Sozialschwache Familien bekamen 15 $ monatlich gezahlt. Einzige Bedingung, man musste arm sein. Unter Correa wurde die Sozialhilfe auf 35 $ pro Familie erhöht, das ganze ist jetzt allerdings an die Bedingung gebunden das die Kinder dieser Familien die Schule besuchen und die Eltern müssen die Kinder regelmässig zu den kostenlosen medizinischen Vorsorgeuntersuchungen bringen. Machen sie das nicht wird ihnen das Geld gestrichen.
5) Verbesserung der Lage für behinderte Menschen. Jede Firma mit mehr als 100 Mitarbeitern muss je 100 Mitarbeiter einen behinderten Mitarbeiter einstellen. Diese Quote wir in Jahreschritten erhöht bis der Anteil an behinderten Mitarbeiter 4 % im Jahr 2015 beträgt. Da der ekuatorianische Vizepräsident Lenin Moreno selbst querschnittsgelähmt ist liegt ihm dieses Projekt besonders am Herzen. Viele öffentlich Gebäude sind oder werden behindertengerecht umgebaut. Familien die ein schwerbehindertes Kind oder Familienmitglied zuhause pflegen erhalten vom Staat monatlich 266 $, da man davon ausgeht das die Pflegeperson aus Zeitmangel keiner zusätzlichen Arbeit mehr nachgehen kann. Unter den Vorgängerregierungen hat man diese Leute einfach ihrem Schicksal überlassen, die haben nicht mal medizinische Versorgung erhalten, wenn sie nicht bezahlen konnten.
6) Kostenlose medizinische Versorgung. Seit der Verfassungsänderung von 2009 hat jeder hier ein Anrecht auf kostenlose medizinische Versorgung. Vor Correa konnte man nur in die damals schlecht ausgestatteten Krankenhäuser wenn man sozialversichert war, der Service war unterirdisch, Medikamente nie vorhanden. Heute spielt es keine Rolle ob man sozialversichert ist. Die Krankenhäuser wurden modernisiert, neu ausgestattet, Medikamente sind meist vorhanden, der Gesundheitsetat versechfacht. 25 % mehr Personal eingestellt und der Service stark verbessert. Natürlich funktioniert das ganze noch nicht zu 100 %, das kann man in SA auch nicht erwarten. Es ist aber auf jedenfall sehr viel besser als vor 5 Jahren. Durch stärkere Kontrollen in den Firmen wurden allein in den letzten 12 Monaten 600.000 neue Beitragszahler in die Sozialversicherung gefunden.
7) Verdreifachung der Steuereinahmen ohne Steuererhöhung. Durch stärke Kontrollen der Finanzämter haben sich die Steuereinahmen im Vergleich zu 2006 verdreifacht. Ausserdem wurde die Mittelschicht entlastet. Vor Correa war man ab 800 $ mtl. Einkommenssteuerpflichtig, heute ab 1.500 $ mtl. Leute die zwischen 1.500 – 5.000 $ verdienen zahlen heute weniger als zuvor. Ab mehr als 5.000 $ Monatseinkommen wird dann allerdings der Spitzensteuersatz von 25 % fällig

Verbesserung der Infrastruktur. In den letzten 4 Jahren wurden mehr als 5500 Kilometer an Strassen neu gebaut und ausgebessert. Deshalb ist das Strassennetz jetzt eines der besten in SA. Auch wurde Wert darauf gelegt das ganze ordentlich zu machen. Diese Strassen sollen mindestens 25 Jahre halten und nicht wie die provisorischen Teersträsschen der Vorgängerregierungen 3 Jahre bis man wieder einen lukrativen Folgeauftrag zur Ausbesserung vergeben könnte.
Ich könnte jetzt noch ungefähr 10 – 15 weitere Beispiele ausführen, lasse das ganze jetzt aber aus Zeitgründen. Allerdings erkläre ich Dir noch kurz was es mit der Umstrukturierung der Justiz, Correas Verfolgung der Presse und dem 30. September auf sich hat. Du stellst das ganze nämlich falsch dar.
Bevor Correa Präsident von Ekuador wurde hat er in der USA und in Belgien studiert. Als er nach Ekuador zurückkommt und seine Stelle als Wirtschaftsprofessor an der Uni Quito antritt beantragt er eine Kreditkarte. Die bekommt er nicht weil seine Kreditauskunft negativ ist. Angeblich hat er vorher schon eine Kreditkarte gehabt und nicht pünktlich bezahlt. Correa beweist der Bank das er nie eine Kreditkarte hatte und bittet um Löschung des Eintrags. Die Bank weigert sich, daraufhin verklagt Correa die Bank. Da die Mühlen der Justiz in Ekuador langsam mahlen versauert der Fall auf dem Schreibtisch irgendeines Richters. 4 Jahre später wird Correa Präsident, ein Richter findet den Fall auf seinem Schreibtisch und spricht Correa 3 Millionen Dollar an Schadensersatz zu. Die Bank geht natürlich in Revision, Correa ebenfalls da er offen sagt, das die Summe die ihm der Richter zugesprochen hat in keinem Verhältnis steht und viel zu hoch ist. In der Revision wird die Bank zu 500.000 Schadensersatz verurteilt und das Urteil wird rechtsgültig. Die Bank mit der sich Correa gestritten hat ist die Banco del Pichincha, die grösste Bank von Ekuador und gehört einem Mann namens Fidel Egas, der gleichzeitig auch noch ein Medienimperium bestehend aus Tageszeitungen und Fernsehkanälen besitzt. Seit der Verurteilung der Bank ist die Berichterstattung der Egas zugeordneten Medien gegen die Regierung im freundlichsten Fall kritisch und in vielen Fällen absichtlich verfälscht.
Im Fall der aktuellen Klage gegen die Zeitung “El Universo” geht es darum das der Chefredakteur Correa einen “Diktator” genannt hat, obwohl Correa im Jahr 2009 von 52 % der Bevölkerung demokratisch gewählt wurde. Ausserdem behauptet der gute Mann das Correa im Zuge der Vorkommnisse des 30. Septembers den Beschuss des Polizeihospitals angeordnet haben, was nachweislich nicht stimmt, da diese Entscheidung von den Militärs getroffen wurde. Als Beweis dient ein Video in dem Correa wörtlich sagen soll” Pegan un tiro al pecho a todos estos traidores a la Patria” Die Tonqualität dieses Videos ist sehr schlecht, da es von einem Polizisten ausserhalb des Fahrzeugs in dem sich Correa befindet aufgenommen worden ist und in der Umgebung andere Geräusche mit aufgezeichnet werden. Ein Journalist der sich jedoch in diesem Moment direkt neben Correa befindet zeichnet das ganze in deutlich besserer Qualität auf, da er direkt am Seitenfenster steht. Auf diesem Video sieht man ausserdem den Polizisten der “El Universo” das belastende Video zugespielt hat. Auf dem Video des Journalisten ist Correa ausgezeichnet zu verstehen und sagt folgendes: “Diganles que me pegan un tiro al pecho antes de traicionar la patria de esta manera.” Natürlich verlangt Correa von “El Universo” eine Richtigstellung dieser Behauptungen, was von denen natürlich abgelehnt wird. Deshalb verklagt Correa “El Universo” die grösste Tageszeitschrift des Landes. Hintergrundinformation zu El Universo: Diese Zeitschrift bezahlt nicht mal Steuern in Ekuador sondern ist im Steuerparadies Cayman Island gemeldet, die Eigentümer sind die Gebrüder Perez aus Guayaquil. Deren Vater hat den ekuatorianischen Staat vor etwa 20 Jahren um fast 50 Millionen Dollar geprellt als er das neue Busterminal gebaut hat. Ausserdem waren sich die Herren ihrer Macht so sicher, da sie jahrelang mit ihren Hetzschriften über das Wohl der gewählten Präsidenten entscheiden konnten. Trotzdem und da gebe ich Dir Brief und Siegel wird weder einer der Gebrüder Perez, noch der Chefkolumnist Emilio Palacios auch nur einen Tag im Knast verbringen. Das kann sich Correa nicht leisten, da er dann wirklich in die komunistische Ecke gedrückt wird. Nachdem das Urteil rechtskräftig würde, würde Correa diese Leute begnadigen weils ihm halt nur ums Prinzip geht.
Probleme mit der Justiz. In der Amtszeit vom Christdemokraten Leon Febres-Cordero hat man sämtliche Richterposten aus christdemokratischen Reihen besetzt. Viele dieser Richter sind korrupt und Recht erhält hier nur wer den dickeren Geldbeutel hat. Beispiel gefällig ? Seit etwa 5 Jahren steht ein sehr angesehener Anwalt aus Guayaquil vor Gericht, der über Jahre ein kleines Mädchen sexuell missbraucht hat. Vor 3 Monaten wurde nach den Verzögerungstaktiken ein Urteil von einem Tribunal mit 4 Richtern gefällt. Die haben ihn nur wegen sexueller Nötigung verurteilt (4 Jahre Haft), obwohl der Tatbestand der Vergewaltigung erfüllt ist (Strafmass 16 - 25 Jahre). Um das ganze gut aussehen zu lassen begründen die Richter das die zahlreichen Vergewaltigungen immer nur ein "ratito" angedauert hätten. Da der gute Mann natürlich gleich wieder in Revision gegangen ist läuft der immernoch frei rum. Der stirbt wohl vor Beendigung des Rechtsstreits ohne den Knast je von innen gesehen zu haben. Wegen solchen Knallern werden jetzt halt gezielt die Urteilssprüche der Richter begutachtet und offensichtlich korrupte Beamte entlassen. Ausserdem muss sich was ändern, weil es grosse Probleme mit der Sicherheit vor allem in den Grosstädten Quito und Guayaquil gibt. Correa führt das vor allem auf korrupte Richter zurück, die die Räuber schneller auf die Strasse zurückschicken als du gucken kannst. Wenn er jetzt die Justiz total umkrempelt muss er sich später natürlich auch daran messen lassen.
Weiterer Irrtum Deinerseits, der Präsident in Ekuador kann nach Verfassungsänderung nur 2 x wiedergewählt werden. Was viele auch nicht wissen, wenn die Opposition hier Eier in der Hose hätte könnten die Correa noch morgen absetzen. Die sogenannte "Muerte Cruzada" erlaubt sowohl dem Präsidenten als auch der Legislative den Präsidentenposten und die Plätze in der Legislative für sofort nichtig zu erklären. Es finden dann schnellstmöglich Neuwahlen statt. Allerdings hat die Opposition Angst bei Neuwahlen ganz ohne Posten in der Legislative darzustehen, da sich Correa natürlich auch sehr gut zu verkaufen weiss.
Verstehe mich jetzt bitte nicht falsch bei Correa ist auch nicht alles Gold was glänzt, der Mann hat ohne Zweifel auch seine Fehler. Z. B. schürrt er den Sozialneid, schiesst manchmal über das Ziel hinaus etc.. Aber es passiert endlich mal was.
Über das wie und warum des 30. Septembers bist du ebenfalls falsch informiert worden. Bin jetzt allerdings müde. Ich stelle es dir aber in den nächsten Tagen gerne hier rein oder sende es dir per PN falls du wirklich daran interessiert bist.
Gruss aus Ekuador